Deutsch

Lene ter Haar

Sonnenstand

Kulturreferentin Generalkonsulat der Niederlande in Düsseldorf

März 2020

◀ TEXTE

Ich weiß es noch genau, als ich das erste Mal Judith Kleintjes in ihrem Atelier hier in Düsseldorf besuchte. Erst durch den Hinterhof, dann die Treppe hoch, bis ganz nach oben, an ihrer Malerkollegin vorbei, und dann: ein Meer von Licht, dazwischen zarte Pastelltöne, hier und da ein goldenes Funkeln. Alles steht in eigener Ordnung und Ästhetik, sogar die Reihenfolgen der Pinsel und Farben sind ein ästhetisches Vergnügen. An der Wand gegenüber dem Fenster hängen verschiedene Arbeiten, auf Leinwand, Zeichnungen, Keramik. Für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen, das ewige Ticken der Uhr eine Nanosekunde lang zu verharren. Es ist das Licht, das sich ihr in den Weg stellt. So unmittelbar und klar wie es das nur in diesem Raum gibt. Und im Norden der Niederlande: es ist so flüchtig wie der Horizont der dort zwischen Wassergräben, Weiden und Himmel vor den Augen verschwimmt. Es ist das Licht und die Weite, die schon seit Generationen die Niederländischen Landschaftsmaler in ihren Bann zogen, und jetzt auch mich. Mitten in Düsseldorf: ein Stückchen Polder.

Die kleinformatige Tuschezeichnung ‚die stille hat überall Türen‘ ist ein Aquarell, im oberen Drittel des Blattes auf das Papier gesetzt. Kunstvoll zeigt sich in der verlaufenen Farbe der Polder: langgestrecktes Grasland mit vereinzelten Bäumen bis zum Horizont, darüber der typische grau-blaue Himmel. Die Arbeit kann als Referenz an die Niederländischen Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts verstanden werden. Zum Beispiel an Johannes Vermeer, und die anderen „Maler des Lichtes“ aus dem so genannten Goldenen Zeitalters wie Rembrandt oder Frans Hals. Damals wurde die Komposition der Gemälde strenger und schlichter, mit klarer Linienführung vor einem Horizont, der im unteren Bilddrittel angesetzt viel Raum für die charakteristische Wolkenluft lässt. Der Fall des Lichtes und das Spiel zwischen Hell und Dunkel, Licht und Schatten, verlieh den Gemälden eine bis dato ungekannte Dynamik.

Bis weit ins 20.ste Jahrhundert bleiben die alten Holländischen Meister auf den Kunsthochschulen die Norm. Damals wie heute lebt die Darstellung der Niederländische Landschaft von ihrer Klarheit und dem Wechselspiel von Licht und Luft. Obwohl nur Kleintjes Arbeit ‚die stille hat überall Türen‘ wortwörtlich eine Landschaft abbildet, nehmen auch andere Werke in unterschiedlichen Materialien Bezug auf Landschaftliches. Es sind Fragmente unseres zeitgenössischen Lebensraumes, die im Spiel von Hell und Dunkel, Licht und Schatten wirken. Sie atmen das Schlichte und Strenge, aber auch die Poesie der Niederländischen Landschaftsmalertradition.

Das richtige Wort, der richtige Strich. Der vielleicht größte Unterschied der heutigen Generation zu den Malern des Goldenen Zeitalters ist die Romantik die ab Ende des 18. Jahrhunderts die Kunstauffassung fundamental veränderte. Der Niederländische Philosoph Maarten Doorman beschreibt in seinem Essay De Navel van Daphne einen Paradigmenwechsel der bis heute das Spannungsfeld zwischen Kunst und (politischer) Wirklichkeit umreißt:

„Die Kunst positioniert sich seit der Romantik außerhalb der Wirklichkeit, zugleich aber verhält sie sich fortwährend zu ebendieser Wirklichkeit. Kunst steht außerhalb der Welt und umarmt sie manchmal so heftig, dass sie mit ihr zusammenfällt; sie ist, um es romantisch aus zu drücken, absolut in ihrer Isolation und total in ihrer Umarmung.“ (s. 147, 2014)

Schönheit ist heute dann auch nicht mehr Selbstzweck, sie ist immer auch politisch und gesellschaftlich relevant in ihrer Aussage. Das ist etwas, dass die heutige Generation Niederländischer Maler wie Judith Kleintjes klar erkannt hat, auch wenn die Beziehung zur Welt eher in den farblichen Zwischentönen thematisiert wird als im Motiv. Die Grande Dame der Niederländischen Malerei, Marlene Dumas, appelliert entschieden an diejenigen, die sich von eindeutigen Abbildungen zu eindeutigen Aussagen verleiten lassen:„Art is not a case of innocent taste. A neutral gaze does not exist.“ Gleichzeitig reicht sie drei Schlüsselbegriffe an, die den Spannungsbogen von Kleintjes Oeuvre sehr treffend umreißen: „There’s a constant clash (in art) between the senses, between nonsense, senselessness and sensuality. That’s why a good work of art is essentially elusive.”

Wie zum Beispiel im Fall der trügerisch-eindeutigen Farbe Grau, die die Künstlerin oft verwendet. Eine Farbe die eigentlich ein Wiederspruch an sich ist, außer wenn man sich vor Augen führt, dass im Grau alle Farben enthalten sind. In Sonnenstand werden eben diese Schattierungen unseres alltäglichen Graus sichtbar; mal eher in einem leichten Aubergine, im seegrünen Seladon bis hin zum tiefen Anthrazit. Oder in Erdtönen wie die halbrunde Schale: neben einem Alltagsgegenstand ist sie ein archaisches Symbol beinahe aller Kulturen für Empfangsbereitschaft, sinnliche Wahrnehmung und Zuwendung zur Welt. Diese und ähnlichen Assoziationen sind durchaus mit Humor unterlegt. Gerade in den kleine figurativen Zeichnungen merkt man das Augenzwinkern, mit dem die Künstlerin an der Arbeit ist. Einfach, klar, aber nicht simpel. In der Beschränkung, der klaren Entscheidung für Motiv und Technik, liegt viel Kraft.

Dabei macht Kleintjes doch vor allem die Schatten sichtbar - ohne Licht kein Schatten -, und den Prozess der Zeit, auch im metaphorische Sinne. Immer wieder mit Bleistift, mit dem sie wie in einem Zeitraffer die Bewegung der Sonne anhand des wandernden Schattens dokumentiert, oder in dunkele Sepia Tusche auf Leinwand, oder in der wundersamen Keramik. Diese Schatten-Objekte aus Porzellan weisen vereinzelt Bruchstellen auf, die mit Gold ‚geflickt‘ sind. Ein tröstlicher Gedankte, Bruchstellen zu vergolden, anstatt sie unsichtbar wegzuarbeiten. Was ist schon makellos? In der japanischen Kintsugi-Technik zum Reparieren von Keramik sind solche Bruchstellen zu Philosophie geworden. Kintsugi bedeutet wörtlich ‚goldene Verbindung‘, gemäß dem mit Goldstaub versetzten Lack, der dafür verwendet wird. Judith nennt das: „To embrace the beauty of imperfection.“ Mit einem goldenen Tropfen zusammengehalten, erinnern sie mich nun daran, dass nicht nur Licht, sondern auch Schatten brechen können.

Kleintjes nimmt in diesem Sinne oft mit verführerischer Ästhetik als Vehikel, Stellung und zeigt leise aber um so eindringlicher die Ambivalenz und Unbeständigkeit aller Erscheinungen.