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Dr. Alina Kokoschka

Gedanken eines Baumes im Winter

Kunsthistorikerin und Kuratorin Die Eiche, Kolumbarium in Lübeck. Katalog Text zur Arbeit in der Bibliothek.

2022

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Gedanken eines Baumes im Winter

Ein einzigartiges Lebewesen gibt Einblick in sein Inneres.

Der Baum ist der Freund des Menschen. Er schenkt ihm Früchte, stillt Hunger und Durst. Er schützt ihn vor Sonne und vor Regen. Den Kindern ist er Spielplatz und der müden Wandersfrau eine Lehne. Im Winter aber hat der Baum keine Blätter, um zu schützen, keine Früchte, um zu nähren. Und zu kalt ist es, um draußen zu verweilen. Dann ist der Baum still und für sich. Er hat eine Ruhepause.

So ist der Winterbaum in sich gekehrt, mit seinen Säften und Gedanken: Stark bin ich. Meine Wurzeln sind so weit wie meine Krone, doch niemand sieht es. Aus ihnen wächst mein mächtiger Stamm. Über die Jahre wurde ich immer kantiger, schroffer, belebter. Bin manchem Tier ein Haus geworden. Wer lange genug unter mir liegt, erkennt das Muster, in dem aus meinem Stamm Äste werden, immer mehr, immer kleinere. Das ist meine Krone. Sie war einmal rund und prächtig. Jetzt im Winter sieht jeder, dass ich alt geworden bin. Mancher verehrt mich deswegen. Andere fürchten sich. Denn an einigen Wintertagen ist das Licht besonders fern. Aus dem Blau der Nacht wird Schwarz-Violett. Dann ragen meine Äste wie knorrige Arme, Hände, Finger in die Welt. Doch ich will nach niemandem greifen. Ich warte auf den Frühling. In ihm werden wieder Blätter aus mir sprießen. Es werden weniger sein, doch den Menschen werde ich auch so eine Freude sein. Den Kindern ein Spielplatz. Den Vögeln ein Haus.

Die Künstlerin Judith Maria Kleintjes hat den Baum als Wesen erkannt. Ein zweiter Stamm, jünger und stärker, steht wie ein Schatten hinter dem knorrigen, alten Stamm. Je nach Blickwinkel blitzt dieser silbrig glänzend hervor. Und verschwindet wieder. So rätselhaft wie das ganze einzigartige Lebewesen. So verschlüsselt, wie auch die Romantik den Baum gesehen hat. Die Künstlerin studierte bei Jannis Kounellis, einem zentralen Vertreter der Arte Povera. Diese Kunstrichtung bedient sich „armer“, d.h. gewöhnlicher, alltäglicher Materialien. Naturmaterialien gehören dazu. Äste, Zweige, Blätter und Blüten zählen daher zu den zentralen Motiven Kleintjes’.

Die Baum-Komposition ist von großer Ruhe und Zurückhaltung und eignet sich deshalb besonders gut als Leitbild für die Kapelle im Kolumbarium. Dort findet sich eine zweite, größere Fassung des Bildes mit dem Titel ‚Licht wird Stille, Stille wird Licht‘.

Judith Maria Kleintjes (geb. 1963, Utrecht/Niederlande, lebt und arbeitet in Amsterdam und Düsseldorf), Zeichnung ‘Ohne Titel‘, 2010, rote Tinte und Graphit, 21 x 14,5 cm.

Dr. Alina Kokoschka – Kuratorin Kolumbarium Die Eiche, Lübeck, 2022.