Deutsch

Dr. Alina Kokoschka

Licht wird Stille, Stille wird Licht

Kunsthistorikerin und Kuratorin Die Eiche, Kolumbarium in Lübeck. Katalog Text zur Arbeit in der Kapelle.

2022

◀ TEXTE

‚Die Stille hat überall Türen‘

Ein Baum ist Sinnbild der Ruhe in der Kapelle.

An Stille mangelt es in dieser Zeit. Sie braucht aber Raum, denn nur mit ihr gelingt der tiefe Blick nach innen. Und der weite nach außen. Der Geist kommt zur Ruhe. Daraus können klare Gedanken entstehen, tiefe Einsichten. Und besondere Bilder. So geht es auch Judith Maria Kleintjes. Die Künstlerin sucht immer wieder stille Orte auf. Klöster zum Beispiel. Dort ist das Schweigen zu Hause. Die Menschen und die Architektur sind eingestimmt darauf. Wenn die Stille Judith Maria Kleintjes‘ Geist ausgefüllt hat, öffnen sich neue Türen und ihre besonderen Werke entstehen.

So sind aus langer Beobachtung der Zeit, abgelesen an Sonne, Licht und Schatten, die Porzellanskulpturen der Künstlerin geworden. Sie versuchen, das Ungreifbare von Zeit und Vergänglichkeit einzufangen. Das zarte und zugleich scharfkantige Material spiegelt die Zerbrechlichkeit unseres Seins. Wer Stille halten kann, hat Augen, dies ‚schwarze Licht‘ der Schatten, Judith Maria Kleintjes‘ lumière noire (2018) zu sehen. Licht und Dunkel als untrennbare Zweiheit prägen ihr Schaffen: Licht und Dunkel hinterlassen einen fluchtigen Eindruck auf dunklem Grund, ein Schattenwind (2016) bloß, der doch ihr Wesen einfängt. Dann wieder sehen, nein, erahnen wir in ihrem Atelier einen Baumstamm durch weißen Nebel, wie er früh über die Felder zieht. Er lässt das Licht kaum hindurch.

Nahezu abwesend ist das Licht auch im Winter. Zurückgezogen, still, ohne Blätterrauschen steht ein knorriger Baum vor dem farbigen Dunkel der kalten Jahreszeit. Stamm und Äste sind in Graphit gezeichnet. Ein dunkles Material, das doch einen Schimmer erzeugen, Licht geben kann. Zeichnen ist für Judith Maria Kleintjes wie ein Seismograph. Es hält die innere Spur fest, eine Spur die in der Stille entstanden ist. Und so sendet das Bild, sendet der Baum seine Ruhe aus in die Kapelle der EICHE. Dies ist ein Raum der Einkehr, des zu-sich-Kommens. So wie der Baum ganz zu sich kommt, wenn er seine Säfte zurück in den Stamm holt, um Kraft zu sammeln für den nächsten Frühling.

Vorbild für dieses Werk ‚Licht wird Stille, Stille wird Licht‘ ist eine kleinere Arbeit der Künstlerin. Sie war Inspiration für die Stimmung der Kapelle und ist in der Bibliothek der EICHE zu sehen (Werk 67). Für die Kapelle hat Judith Maria Kleintjes einen zweiten, großen Baum geschaffen. Das Titelzitat auf dieser Seite ist bedeutsam für das Schaffen der Künstlerin und stammt aus ‚brief im april‘ von Inger Christensen (1935-2009).

Judith Maria Kleintjes (geb. 1963, Utrecht/Niederlande, lebt und arbeitet in Amsterdam und Düsseldorf), ‘Licht wird Stille, Stille wird Licht‘, 2020, Acryltusche und Graphit, 99 x 69 cm.

Dr. Alina Kokoschka – Kuratorin Kolumbarium Die Eiche, Lübeck, 2022.