Deutsch

Dr. Uwe Schramm

Drahtlos gesponnen

Katalogtext
...doch das dunkel ist weiß
Kunstverein Recklinghausen

Mai 2010

◀ TEXTE

Mit Judith Kleintjes’ Zeichnungen, skulpturalen Formulierungen und intimen, von gläsernen Kuppeln überfangenen Objekten öffnet sich ein Werk, das den Betrachter auf den Pfad einer immerwährend sich verändernden, von vielschichtigen Assoziationen getragenen Gestaltwahrnehmung führt. Eine Wahrnehmung, die stets zwischen Polaritäten schwankt, im Spannungsfeld von Faszination und subtilem Schmerzempfinden, balancierend auf dem schmalen Grat zwischen Anziehung und tiefgründiger Scheu vor der Konfrontation mit sich selbst.

Kleintjes’ künstlerisches Vorgehen manifestiert sich in kreisenden Bewegungen, als zirkulierender Versuch der Eingrenzung und Bestimmung von Bedeutung, die in ihren sichtbaren Momenten den Widerhall alles Gesehenen in sich birgt – nicht mehr als Andeutungen, unausgesprochene Ahnungen und verloren geglaubte Erinnerungen an Ähnlichkeiten von bereits Bestehendem. Die zur Form geronnenen Ausläufer jenes in sich Kreisens entziehen sich jeder letztgültigen Definierbarkeit und bewahren damit ihre deutungsbezogene Offenheit vor dem bohrenden Zugriff des analytischen Verstandes. Judith Kleintjes’ Arbeiten tragen das Prinzip der Metamorphose in sich, einer potenziellen Vieldeutigkeit der gestalterischen Form, die in den wechselnden Augenblicken der Wahrnehmung zur Gewissheit über den ursprungshaften Zusammenhang allen Seins heranreift und sich im Zuge der Betrachtung mehr und mehr zu einem assoziationsgesteuerten Erkenntnisprozess verselbständigt.

Die vielleicht monumentalste Zeichnung im bisherigen Werk der Künstlerin ist ,Ikarus‘. Die großformatige, mit roter Tinte gefertigte Zeichnung zeigt auf hellblau eingefärbten Papiergrund ein exzentrisch platziertes Liniengeflecht, das sich dem Betrachter – ohne Kenntnis des Titels – als ein abstraktes Gebilde aus dynamisch geschwungenen Pinselstrichen zeigt. Die Stärke der Linien schwankt dabei zwischen fließend faserigen Strichen und einem flächenförmig verdichteten Geäst, das an seinen Rändern hellgrundige Verläufe und wässerige Ausfransungen aufweist. Die Ähnlichkeit der in sich gewundenen Linienzusammenballung mit abstrakten, kreisenden Himmels- oder Flugbewegungen weicht bei näherer Betrachtung der Erinnerung an ein signifikant verästeltes Lungengewebe, an ein weitreich verzweigtes System aus Blutgefäßen, Adern und Kapillaren, an vitale Funktionen des menschlichen Körpers ebenso wie an dessen Verwundbarkeit und Verletzlichkeit. Die Viellinigkeit der Zeichnung erscheint damit als Form der Visualisierung ursprünglicher Lebendigkeit. Ihre Dynamik verweist auf den Kern und das Wesen alles Lebendigen, auf lebensbejahende Kraft und Vitalität. Keine dieser Bedeutungsschichten grenzt sich gegeneinander aus, vielmehr überlagern sich die vielfältigen Wahrnehmungen der linearen Gestalt zu einem dichtmaschigen Netz aus verzweigten Bedeutungsfeldern, die im Nachvollzug ihres Verlaufs entstehen, sich weiter verdichten und wieder vergehen können. Die mythologische Betitelung ergänzt diesen offenen Wahrnehmungshorizont um eine literarische Dimension, ohne jedoch die Lesbarkeit des Liniengeflechts auf diese eine eindeutige Benennbarkeit hin einzuschränken. Im zeitlichen Verlauf der Betrachtung lädt sich die abstrakte Bildsprache der Zeichnung mit Bedeutungen auf, die vom individuellen Assoziationsvermögen des Rezipienten, seinen Erinnerungen und Erfahrungen gespeist wird. Im Zuge der sich einstellenden Assoziationen erscheint ,Ikarus‘ als personifizierter Begriff körperlicher Existenz und Verletzlichkeit.

Als herausragendes Gestaltungselement sowohl im skulpturalen als auch im malerischen Werk von Judith Kleintjes ist die Linie stets vielschichtig konnotiert. Linien, mal als hauchdünne, eng miteinander versponnene Fäden, deren spröder metallischer Glanz einem nestartigen Gebilde eine ambivalente Erscheinungshaftigkeit verleiht, ein anderes mal als zeichnerisches Gestaltungsmittel zum Einsatz gebracht, um Formen entstehen zu lassen, die an Blüten, Knospen, eingesponnene Köpfe und Gesichter oder an das weibliche Geschlechtsorgan erinnern. Ihre Betrachtung lässt Analogien aufkeimen zwischen der signifikanten Erscheinungsweise des linearen Konstrukts und jenen Formen und Erinnerungen, die in unserem Geist gespeichert sind – ein latent abrufbares Reservoir an visuellen Eindrücken und Gebilden. Entsprechend spannt sich der Bogen der mit den Zeichnungen verknüpften Ausdrucksdimensionen. Allen diesen assoziationsreichen Liniengeflechten gemeinsam ist, dass sie eine besondere Herausforderung für den Betrachter darstellen: In ihnen erschöpft sich die Konfrontation mit der Linie nicht nur in der Einsicht über den ursprünglichen Zusammenhang aller Lebensformen, sondern mündet in der Begegnung mit sich selbst.