Deutsch

Anja Görling

Metamorphosen der Wahrnehmung

Katalogtext
Kunstverein Ibbenbüren

März 2009

◀ TEXTE

Oft sind es Geschichten, Gedichte, Märchen und Mythen, aus denen die Niederländerin Judith Maria Kleintjes, wie sie sagt, eine Inspiration für ihre künstlerische Arbeit bezieht. Vor allem sind es jene Geschichten, in denen es um Verwandlung geht. So wie die über die Nymphe und jungfräuliche Jägerin aus Ovids „Metamorphosen“, Daphne, die, vor dem drängenden, einfangenden Liebesbegehren des Apoll auf der Flucht, ihre Gestalt verändert. Haar, das zu Laub wird, Arme, die Äste werden, Rinde, Baum. Oder wie die Geschichte von der Müllerstochter aus den Volksmärchen der Gebrüder Grimm, von dem Mädchen, das Stroh zu Gold spinnt.

Judith spinnt Stahlwolle. Sie spinnt, näht und vernäht sie zu Nestern unterschiedlichster Größe, wickelt sie zu dicht gesponnenen Kokons, flechtet sie zu Zöpfen, stellt sie zur Schau in Glaskästen, lässt sie baumeln, Inneres nach außen gestülpt, ausgeweidet, an Eisenhaken.

Die Stahlwolle hat Judith nach Deutschland, nach Düsseldorf gebracht. Ihre erste Arbeit während eines Workshops 1997 bei Jannis Kounellis an der Düsseldorfer Akademie ist ein riesiges, auf dem Boden liegendes Stahlwolle-Nest. Eine Installation mit Herztönen, unregelmäßig. Das Nest, so Judith, spricht ein Urbedürfnis des Menschen nach Wärme, Umsorgtheit, Geborgenheit an. Doch das, was hier so wohlig und weich verführt und lockt, erweist sich bei Berührung als scharf und verletzend. Die Künstlerin, bei ihrer Arbeit mit dem Material, beim Vernähen der Fäden im Inneren der Höhlung selbst erschrocken von der Schärfe des Metalls, kehrt zurück mit zerschnittenen Händen.

Judith wählt ihr Material sehr genau aus, das Sinnliche, Haptische, die fühlbare Materialität ist ihr wichtig. Ihre Arbeiten sind nie glattflächig, haben immer mehrere Ebenen, fühlbare Ebenen, Poröses. Man könnte sagen, wie mit der Stahlwolle ist es stets ein Arbeiten auf des Messers Schneide, eine Kunst, die die Kante, die Grenze aufsucht, die ihre Bewegung, ihr Bewegendes und zugleich ihre Schönheit aus dieser Verletzung oder Verletzbarkeit erfährt.

Auffallend ist die Verwendung roter Farbe in Judiths Bildern. Doppelte Schlaufenbewegungen in roter Tinte, sie kerben, kratzen an der Oberfläche, durchqueren und transformieren die Grenze, holen Inneres nach außen, Herzbeutel, Lungenflügel, Körperflüssigkeiten. Diese doppelten Schlaufen, Bahnen, Schlingen, Achten, die Judith in ihren Arbeiten wiederholend zieht, wickelt oder windet, öffnen die eher melancholischen Kreisbewegungen, die sich noch in früheren Arbeiten, im Nest oder in den blauen Kringeln oder Pfützen, wie Judith sie nennt, finden, öffnen sie zu einer Suchbewegung, die sich verausgabt: eine rauschhafte Bewegung. Anders als der Kreis, der die Tendenz hat sich zu schließen, dabei ein Innen und ein Außen markierend, steht die Acht, das Möbiusband, für eine sich windende Wiederholung bei fehlender Mitte. Aus dieser Acht entstehen in Judiths Arbeiten oft Zwei: zwei Lungenflügel, zwei Herzkammern, zwei Knospen. Doch sind diese Zwei nicht unbedingt oder nicht nur entworfen als Paar, sondern auch als ein Nicht-Eins-Sein mit sich selbst, als ein Doppelt- oder Mannigfaltigsein. Der ekstatische Körper, der Körper im Werden, wie man mit Gilles Deleuze und Fèlix Guattari sagen könnte, der Körper in der Metamorphose: er windet sich – so wie Berninis Skulptur der Daphne, die Judith in der Galleria Borghese in Rom bewunderte, im Moment ihres Baum-Werdens.

Unter Judiths Arbeiten findet sich eine Schar merkwürdiger hybrider Wesen, eine Vielzahl von rätselhaften Verbindungen, Zusammenfügungen, Gestaltwerdungen. Ähnlich unseren Traumbildern oder Traumszenen lassen sich diese, wie Georges Didi-Huberman es in seinem Buch „phasmes“ ausdrückt, weder als „‚symbolische‘ Geschichten“ noch als „figürlich darstellende ‚zeichnerische Kompositionen‘“ begreifen. Sie haben keine Substanz. Oft sind es Fragmente, Andeutungen, Reste, Spuren, etwas, das noch in der Schwebe, im Begriff ist zu erscheinen oder etwas, das schon erschienen ist. Nicht figürliche, sondern „figurierende Figuren“, die immer mehrere Geschichten gleichzeitig erzählen, immer zugleich eine Kehrseite erkennen lassen, eine Unähnlichkeit.

Immer wieder begegnen uns unter Judiths Arbeiten Körperteile, Arme, Hände, Äste, Zweige, Blätter. Vor allem immer wieder die Arme, die Hände. So wie der Arm einer Barbiepuppe, der an einem Faden von der Decke baumelt, und den Judith, so erzählt sie, wie viele andere ihrer Objekte auch, irgendwo zufällig auf der Straße fand. Aus seiner Hand wächst eine rote Koralle.

Gezeichnete Hände, Hände, die suchen, tasten, greifen, wachsen, kreisen, kratzen, Krallen formen. Ein Arm, der länger und länger sich streckt, sich förmlich ausrenkt, die Form verliert, während er tastend Boden sucht. Hände, die öffnen, sich öffnen, offerieren, doch was? Ein Etwas? Ein Herz? Nein, dieses Etwas, dieses Ding hat (noch) keine Substanz, in Erscheinung tritt eine innere Intensität, ein Brennen, ein Leuchten aus roter Fettkreide.

Hände berühren, in einer Hand ist alles enthalten, wie Judith sagt, aller Anfang, alles Spüren. Hände tragen Macht, Kraft, sie tragen Zerstörung in sich. Verlorene rote Hände, nach der Tat, wie Handschuhe abgestreift. Hände mit Wundmalen, Stigmata. Warum die Wundmale, frage ich. Weil sie gezeichnet sind, sagt Judith. Die Hände der Künstlerin, ihre Suche nach der Intensität des Materials, eine Erinnerung, eine Berührung. Über die Bilder der Hände den Betrachter berühren wollen.

Judith spinnt Stahlwolle, Judith zeichnet aber auch mit Eisendraht. Ihre Schaukel aus Eisendraht, die im Raum schwingt, hat etwas Verlockendes und etwas Gespenstisches.

Ich kann das Quietschen der nicht anwesenden Scharniere hören, Mädchenlachen in Spätsommerlandschaft, fühle meine Erinnerungen an die Bewegung des Schaukelns lebendig werden, an die Schmetterlinge im Bauch, an Juchzen, an Übermut. Aber diese Schaukel ist wieder nur eine Andeutung, gewunden aus simplem dünnen Draht, labil, fragil, substanzlos, immateriell. Eine Zeichnung.

Eine Auflösung ins Imaginäre. Ohne eigene Dichte, verdichtet und konserviert sich jedoch in ihr eine Energie, eine Spur, eine Schwingung. Eine Verwandlungsmöglichkeit. Ticken wir sie an.


Literaturhinweise:
Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin (Merve) 1997.
George Didi-Huberman: Phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern ..., Köln (DuMont) 2001.